Hinweis 2024: Die Beobachtungen in diesem Beitrag sind zwar relevant für die Interpretation von Fiore, aber inzwischen halte ich diesen Interpretationsweg nicht mehr für Zielführend.
Wie in einem anderen Beitrag erläutert, sind die Grundsätze von Fiores Fechten normalerweise durch das Durcharbeiten vieler Beispiele zu erahnen. Zwecks Analyse und Interpretation wollen wir einen dieser Grundsätze näher untersuchen.
Dies ist der zweite von fünf (geplanten) Teilen einer Blogpost-Serie:
- Teil 1: Beispiele
- Teil 2: Hypothesen
- Teil 3: Rechtsseitige Ausgangspositionen
- Teil 4: Linksseitige Ausgangspositionen
- Teil 5: Zusammenfassung
Motivation
Immer wieder in Fior di Battaglia stößt man auf diese (oder eine sehr ähnliche) Formulierung:
- acressere fora di strada, passare alla traversa
- Wörtlich in etwa: aus der Straße heraus steigern, zur Quere passieren
Es gibt mehrere valide Übersetzungen davon:
- Mach einen seitlichen Schritt, dann mach einen queren Passierschritt
- Mach einen Schritt aus der Fechtlinie heraus, dann mach einen schrägen Passierschritt
- Mach einen Schritt aus der Linie heraus, dann mach einen Passierschritt zur Traverse
Hier bedeutet “Passierschritt” ein Schritt mit Auslagenwechsel – ein normaler Schritt, bei dem das ursprünglich hintere Bein nach vorne bringt (im Gegensatz zu einem Schritt, bei dem man zuerst das eine Bein und dann das andere bewegt, ohne das vordere Bein zu ändern).
Wir haben viele Beispiele in Teil 1 gesehen. Durch die Ähnlichkeit und die Häufigkeit der Formulierungen gewinnt man den Eindruck, dass diese Schrittabfolge sich wie ein roter Faden durch Fiores Werk zieht.
Stolpersteine
Aber vielleicht ist dieser Eindruck irreführend und die Suche nach einem allgemeingültigen Muster vergeblich.
- Vielleicht handelt es sich nicht um eine einzige Schrittabfolge; die Ähnlichkeiten zwischen diesen Beispielen könnten nur oberflächlich sein.
- Vielleicht handelt es sich nicht um unterschiedliche Beispiele, sondern um die gleiche Technik; wir sollten uns nicht wundern, dass die gleiche Schrittabfolge immer wieder auftaucht, wenn es sich eigentlich um Wiederholungen der gleichen Technik handelt.
- Vielleicht ist die Beinarbeit nicht der Kerninhalt dieser Beispiele, sonder ein Anhängsel.
- Die Beinarbeit des Colpo di Villano (“Bauernschlag” – vgl. Beispiel 3) wird zwar explizit beschrieben, aber vielleicht ist der Kerninhalt dieses Stückes, dass man die Stärke des Gegners umgeht, statt sich dagegen zu stemmen, und die beschriebene Beinarbeit ist nur ein nützlicher Sonderfall.
- Fiores Scambiar di Punta (“Stoßtausch” – vgl. Beispiel 4) ist ein Stich mit Opposition, aber sicher nicht der einzige Stich mit Opposition, den man machen kann. Vielleicht ist der abgebildete Stoßtausch Fiores Lieblingsvariante, oder vielleicht hat Fiore diese Variante mit verschiedenen Waffen dargestellt, weil sie besonders einfach zu lernen ist (oder aus einem anderen pädagogischen Grund). Würde Fiore seinen Schülern andere Stiche mit Opposition beibringen, oder würde er empfehlen, dass man nur die in seinem Text abgebildete Variante einsetzt? Das können wir nicht wissen.
- Vielleicht ist die Beinarbeit nicht fest vorgeschrieben.
- Fiore soll erfahrener Fechtmeister gewesen sein. Man erkennt an verschiedenen Stellen in seinem Werk, dass ihm klar ist, dass Praxis und Theorie oft auseinandergehen. Sind die beschriebenen Schrittabfolgen eine feste Vorgabe? Ein Ideal, das man anstrebt? Oder beispielhaft? Auch das können wir nicht wissen.
Darüber hinaus erläutert Fiore seine Motivation bei den Schritten nicht, was die Interpretation erschwert.
- Warum zuerst einen halben Schritt machen?
- Um eine Blöße zu schließen?
- Um eine Blöße zu öffnen?
- Um sein Gewicht zu verlagern?
- Um die Reaktion des Gegners auszuloten?
- Um mehr Distanz zu überbrücken?
- Um einem Angriff auszuweichen?
- Um Platz für den folgenden Passierschritt zu machen?
- Warum danach einen queren Passierschritt machen?
- Um einem Angriff auszuweichen?
- Um die eigene Klingenarbeit zu unterstützen?
- Um etwaige Folgetechniken des Gegners vorwegzunehmen?
Fiore verrät es nicht.
Hypothesen
Mit den obigen Gedanken im Hinterkopf können wir ein paar Hypothesen aufstellen:
- Hypothese A: Es gibt keine allgemeingültige Auslegung von der Schrittabfolge “acressere fora di strada, passare alla traversa“, sondern viele situationsabhängige Auslegungen, und die Entscheidungsfindung für die zur Situation passende Abfolge kann nicht nützlich beschrieben werden.
- Hypothese B: Es gibt eine einzige Schrittabfolge “acressere fora di strada, passare alla traversa“, die auf alle Beispiele in Fiores Text zutrifft.
- Hypothese C: Die Schrittabfolge “acressere fora di strada, passare alla traversa“, ist anders für links- und rechtsseitige Ausgangspositionen, aber die Abfolge ist immer gleich für Ausgangspositionen auf der gleichen Seite.
- Hypothese D: Es gibt eine begrenzte Anzahl von Schrittabfolgen die Fiore unter “acressere fora di strada, passare alla traversa” versteht, und die Entscheidungsfindung für die Schrittabfolge kann systematisch beschrieben werden.
Wenn ich im Rahmen dieser Diskussion auf “die Schrittabfolge” oder “die Abfolge” hinweise, meine ich die Schrittabfolge “acressere fora di strada, passare alla traversa” und etwaige Variationen dieser Abfolge.
Im Folgenden stelle ich ein paar mögliche Interpretationen der Schrittabfolge vor.
Ich werde diese Möglichkeiten den Beispielen aus dem Text gegenüberstellen und untersuchen, welche Möglichkeiten zu dem Text passen.
Sollte sich ein (oder kein) erkennbares Muster ergeben, könnte das ein Nachweis für eine dieser Hypothesen sein.
Interpretationen der Schrittabfolge
Aus meiner Sicht gibt es fünf plausible Interpretationen für die Schrittabfolge accressere fora di strada, passare alla traversa. Alle fünf Interpretationen gibt es auch gespiegelt mit dem anderen Fuß vorne.
- Beide Schritte gehen zur Seite des ursprünglich vorderen Fußes und vorwärts
- Der erste Schritt geht zur Seite des ursprünglich vorderen Fußes, der zweite zur anderen Seite (oder direkt nach vorne) und vorwärts
- Beide Schritte gehen zur Seite des ursprünglich hinteren Fußes und vorwärts
- Beide Schritte gehen zur Seite des ursprünglich vorderen Fußes, aber nur der erste geht nach vorne
- Beide Schritte gehen zur Seite des ursprünglich hinteren Fußes, aber nur der erste geht nach vorne
Natürlich gibt es unzählige Variationen von diesen 5 Interpretationen. Es geht aber nicht um die genaue Platzierung des Fußes, sondern um die Richtung und Reihenfolge der Schritte.
Zur Veranschaulichung habe ich diese Interpretationen grafisch dargestellt:
Allgemeine Überlegungen
Wie gut passen diese Interpretationen zu den allgemeinen Beobachtungen aus Teil 1 dieser Beitragsserie?
Aus den Beispielen in Teil 1 sind wir zu folgenden Schlüssen gekommen:
- Die Abfolge kommt bei Ausgangspositionen mit dem linken sowie mit dem rechten Bein nach vorne vor
- Die Schrittabfolge beginnt meistens mit einem Schritt mit dem Fuß, der vorne ist, wobei dieser erste Schritt an manchen Stellen nicht erwähnt wird.
- Diese Schrittabfolge unterstützt immer eine Deckung und einen Angriff, egal welche Waffe benutzt wird
- Ausgangspositionen mit dem linken Bein nach vorne parieren, während man einen Passierschritt macht, und ripostieren meistens mit einem Stich
- Ausgangspositionen mit dem rechten Bein nach vorne parieren mit einem Wegschlagen der gegnerischen Waffe, während man einen Passierschritt macht, und ripostieren meistens mit einem Hieb
- Ausweichen wird oft (aber nicht immer) als Ziel der seitlichen Bewegung angemerkt
Welche von den möglichen Interpretation decken sich mit diesen Beobachtungen?
- Interpretationen 2.L und 2.R unterscheiden sich kaum von normalen Schritten nach vorne
- Die seitliche Bewegung mit Schritt (1) wird durch seitliche Bewegung in die entgegengesetzte Richtung mit Schritt (2) ausgeglichen.
- Unter dem Strich hat man einen kleinen Schritt nach vorne und dann einen Passierschritt nach vorne gemacht, vielleicht mit einer kleinen Änderung der Fechtlinie.
- Unter Umständen kann das zwar durchaus fechterisch nützlich sein, aber diese Interpretation ändert die Fechtlinie kaum, was weder das Ausweichen noch die seitliche Bewegung fördert.
- Der Schritt (2) ist in dieser Interpretation auch eher ein “passare fora di strada” – ein Passierschritt von der Linie weg. Es kann allerdings sein, das Fiore “passare fora di strada” und “passare alla traversa” als bedeutungsgleich verstehen würde. Man müsste die Vermutung gegen andere Beispiele aus dem Text halten, um diese Möglichkeit zu bestätigen oder auszuschließen.
- Ist der erste Schritt bei Interpretation 3 (L und R) wirklich fora di strada (“von der Linie weg”)?
- Der erste Schritt geht zuerst zu der Linie, nicht von der Linie weg; erst nachdem die Linie überquert wird, geht der erste Schritt “von der Linie weg”.
- “Fora di strada” ist allerdings nicht eindeutig definiert – vielleicht heißt “fora di strada” einfach “seitlich”, oder vielleicht ist diese Beobachtung zu spitzfindig.
- Interpretation 3.L sieht meiner Meinung nach unvorteilhaft aus
- Ausgangspositionen mit dem linken Bein nach vorne haben die Waffe auf der rechten Seite. Wenn man sich mit beiden Schritten nach rechts bewegt, aber von der rechten Seite aus nach links eine Parade ausführen soll, blockiert man seine Klingenarbeit mit seiner Beinarbeit, weil man den Unterkörper nach rechts drehen will und den Oberkörper nach links drehen will.
- Als Gegenargument könnte man sagen, dass 3.L einem Angriff von der rechten Seite des Gegners (von der eigenen linken Seite) besser ausweicht, und das Ausweichen gleicht die im ersten Stichpunt erwähnten Nachteile aus.
- Interpretation 3.R sieht meiner Meinung nach auch unvorteilhaft aus
- Fiore schreibt, dass Ausgangspositionen mit dem rechten Bein nach vorne mit einem Wegschlagen der gegnerischen Waffe parieren. Insbesondere wird die Waffe des Gegners zu unserer rechten Seite wegschlagen. Wenn wir dabei einen Schritte nach links machen, machen wir die angegriffene Blöße durch unsere Bewegung größer und drehen wir unsere Hüfte in die entgegengesetzte Richtung von dem Klingenschlag, was unsere Parade schwächt.
- Interpretation 4.L sieht aus einem ähnlichen Grund nur bedingt plausibel aus
- Der erste Schritt unterstützt eine Parade von rechts nach links, aber der zweite Schritt dreht den Körper von der Bindung weg, was die Position in der Bindung schwächer macht.
- Wenn wir absichtlich unsere Position in der Bindung schwächer machen wollen, ist das nicht schlimm! Deswegen halte ich 4.L für möglich bei einer nachgebenden Parade wie z.B. bei dem “Bauernschlag” (vgl. Beispiel 3).
- Interpretation 1, 2, 3 und 4 sind ungünstig, wenn es darum geht einem Schlag mit dem ersten Schritt auszuweichen
- Der kleine Schritt mit dem vorderen Fuß bringt das Zentrum des Körpers nicht aus der Fechtlinie; erst mit dem vorbeigehenden Schritt verlässt der Körper die (initiale) Fechtlinie. Wenn eine Technik ausweichen als Ziel erwähnt, müsste dieser erste Schritt entweder (deutlich) größer sein, in Verbindung mit einem Ausweichen des Körpers gemacht werden, oder als Vorbereitung auf das eigentliche Ausweichen im Voraus gemacht worden sein.
- Interpretation 2 ändert die Fechtlinie nicht, wird also wahrscheinlich nicht bei Techniken mit Ausweichen gemeint.
- Diese Beobachtung schließt zwar 1, 2, 3 und 4 nicht aus, aber wir sollten sie im Hinterkopf behalten, wenn wir später Techniken mit Ausweichen interpretieren.
- Interpretation 5 widerspricht dem Text von vielen Beispielen
- Oft wird im Text beschrieben, dass der vordere Fuß zuerst einen seitlichen Schritt macht. Bei Interpretation 5 (L und R) bewegt sich der hintere Fuß zuerst.
In dem nächsten Beitrag werde ich diese Interpretationen den Beispielen aus dem Text gegenüberstellen und untersuchen, welche zu dem Text passen.













Leave a comment