Trefferqualität und erstrebenswertes Fechten

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Das Ziel des Fechtens ist es, den Gegner oder die Gegnerin zu treffen, ohne dabei getroffen zu werden. Genauer gesagt, will man wirksam treffen, ohne dabei wirksam getroffen zu werden. Was “wirksam” heißt, ist kontextabhängig und manchmal uneindeutig.

Im modernen Sportfechten zum Beispiel werden Treffer anhand einer elektronischen Trefferanzeige erfasst. Nicht jeder Treffer mit der Fechtwaffe ist gültig:

  • Ein Stoß mit dem Florett muss mindestens 500 g Druck haben und innerhalb der Trefferfläche liegen
  • Ein Stoß mit dem Degen muss mindestens 750 g Druck haben
  • Ein Hieb oder Stoß mit dem Säbel wird als Treffer angezeigt, solange die Klinge die Trefferfläche berührt

Man muss hier also beim Angreifen in Kauf nehmen, dass die Spitze vielleicht am Ziel vorbeirutscht, oder dass das Gegenüber gerade noch genug ausweicht. Abgesehen von Diskussionen über Angriffsrecht, ist es ziemlich eindeutig, ob ein Treffer gültig ist oder nicht.

Viele historische Fechtquellen hingegen behandeln den Ernstkampf mit scharfen Schwertern. Was unter “Ernstkampf” verstanden wird, ist stark kontextabhängig; “Ernstfechten” ist also nicht automatisch mit “Fechten mit Tötungsabsicht” gleichzusetzen. Trotzdem kann man generell sagen, dass das Ernstfechten sich vom Sportfechten unterscheidet, indem die Gültigkeit eines Treffers nicht nur durch Regeln bestimmt wird, sondern auch durch die Auswirkung des Treffers auf das Gegenüber. Viele historische Fechter versuchen, diese Gesinnung auf ihr Fechten zu übertragen. Wenn man das machen möchte, muss man “Trefferqualität” verstehen.

Trefferqualität

Wenn man von der “Qualität” eines Treffers spricht, heißt das in diesem Zusammenhang, wie wirksam der Treffer wäre, wenn das Schwert scharf wäre. Dabei gibt es zwei Aspekte von “Qualität”:

  1. “Qualität” im Sinne von Verwundungspotential des Treffers
    • Ein Hieb mit der Fläche der Klinge z.B. könnte zwar wehtun, aber keine wesentliche Auswirkung auf den Getroffenen haben.
    • Ein Hieb mit der Schärfe der Klinge, aber mit schlechter Klingenausrichtung, könnte eventuell nur die Kleidung des Getroffenen durchbrechen.
  2. “Qualität” im Sinne von Auswirkung auf die Kampffähigkeit des Gegners
    • Ein Hieb mit der Fläche der Klinge könnte zwar keine wesentlichen Schäden anrichten, könnte aber das Gegenüber beunruhigen oder ablenken.
    • Ein Hieb mit schlechter Klingenausrichtung hat zwar weniger Verwundungspotential, aber ein schlecht ausgeführter Hieb, der eine besonders verwundbare Stelle trifft, könnte das Gegenüber trotzdem kampfunfähig machen.

Wie du dir vorstellen kannst, können beide Aspekte sehr schwierig einzuschätzen sein. Das sorgt für viele Diskussionen sowohl unter modernen Kampfkünstlern und Fechtern, als auch unter historischen Fechtmeistern.

Ich werde diese Diskussionen nicht lösen können, aber ich kann die grundlegenden Überlegungen dazu skizzieren.

Wer von Beschreibungen von Körperverletzungen gestört wird, sollte am besten zum Abschnitt “Erstrebenswertes Fechten” ganz unten springen.

Überlegungen zum Verwundungspotential eines Treffers

Stiche gegen ein ungepanzertes Ziel haben ein sehr hohes Verwundungspotential.

  • Selbst ein Taschenmesser kann Rippen ziemlich einfach durchstoßen.
  • Weil wirksame Stiche ziemlich einfach auszuführen sind, kann man davon ausgehen, dass jeder simulierte Stich mit mäßiger Kraft wirksam ist.
  • Weil Stiche wenig Kraft erfordern, um wirksam zu sein, ist es nicht notwendig, Stiche mit viel Schwung auszuführen.

Das Schnittpotential eines Hiebes kann sehr schwierig einzuschätzen sein, weil diverse Variablen die Schnittkraft eines Hiebs beeinflussen. Das effektive Schneiden mit einem Schwert ist nicht trivial – deswegen gibt es Schnitttests und Schnittturniere. Wenn ein Schwerthieb besonders schlecht ausgeführt wird, wird das Schwert zur reinen Schlagwaffe – eine Rolle, für die es nicht optimal ausgelegt ist. Im Allgemeinen sind folgende Dinge zu beachten:

  • Hat das Schwert überhaupt eine Schneide? Manche Schwerter sind reine Stoßwaffen, andere haben zwar eine Schneide, sind aber grundsätzlich schlechter im Schneiden.
  • Wie viel Schwung hat der Hieb? Unter sonst gleichen Bedingungen ist mehr Schwung besser.
  • Wie stabil ist die Körperstruktur? Unter sonst gleichen Bedingungen ist mehr Stabilität besser.
  • Wie bewegt sich die Schneide im Verhältnis zum Ziel?
    • Ist die Schneide überhaupt auf das Ziel gerichtet?
    • Wenn sich die seitliche Ausrichtung der Schneide während des Hiebs ändert, kann dies zu einem schlechteren Schnitt führen.
    • Indem man die Schneide auf das Ziel legt und dann drückt oder zieht, kann man auch bei wenig Schwung schneiden.
    • Eine Schneide, die sich im Verhältnis zum Ziel nicht bewegt, kann nicht schneiden.

Überlegungen zur Auswirkung des Treffers auf den Gegner

Die Auswirkung eines Treffers auf die Kampffähigkeit des Gegners kann sehr schwierig einzuschätzen sein, weil der Mensch gleichzeitig unheimlich widerstandsfähig und unheimlich verwundbar ist.

  • Stiche zum Brustkorb sind zwar äußerst tödlich, aber der Tod tritt manchmal erst Stunden oder Tage später ein.
  • Stark prellende Hiebe zum Kopf können unter Umständen auch einen gepanzerten Gegner sofort ausschalten, auch wenn er die Verletzung eventuell überlebt.
  • Treffer zum Kopf, die das Gehirn weder erreichen noch erschüttern sind weniger gefährlich, weil der Schädel die wichtigen Organe vor Hieben und Stichen gut schützt (vor Prellungen aber nur bedingt).

Cuts that hit the skull with force and violence are very severe, even if the wound to the skin is light. Those that form great wounds and which hew through the skull are infinitely less. The reasons for this difference are that in the first case the skull might have been shaken and that there might be an effusion of blood on the brain which is often ignored for quite some time. While in the second case the shock on the brain is less to fear and that you quickly see what you need to do. This is why penetrating wounds to the skull are less severe than those that deeply affect the bones.

Cutting wounds to the face are often less severe than those of the skull. They can be limited to the flesh, affect the bones and separate entirely one from the other.

Those of the collar are more or less severe depending on the parts that are affected. The section of the carotids is fatal, that of the trachea, the oesophagus and the flexor muscles of the head are very severe.

– 1768 Hugues Ravaton Chirurgie d’armée; englische Übersetzung von Maxime Chouinard hier: “Very Perilous: A sword wounds compendium by the surgeon Ravaton”
  • Ein leichter Hieb zum Waffenarm kann harmlos sein, kann aber mit etwas (Un)Glück eine wichtige Sehne durchtrennen und die Waffenhand unbrauchbar machen. Das ist zwar nicht zwangsläufig lebensgefährlich, macht aber den Gegner sofort deutlich weniger kampffähig.
  • Die Rolle der Emotionen darf nicht unterschätzt werden; selbst beim Sportfechten mit Schutzausrüstung kann es beunruhigend und ablenkend wirken, stark geschlagen oder ins Gesicht gestoßen zu werden.

Wer von Beschreibungen von Körperverletzungen nicht gestört wird, könnte diese Anekdote aus dem Bericht eines französischen Chirurgen des 18. Jahrhunderts interessant finden:

One interesting case is that of two Grenadiers of the Saint Germain Regiment who hacked each other. The first had received a sabre cut along the sagittal suture which did not reach the brain, two cuts on the right side of the coronal which caused splinters, the right ear was gone, the nose was half cut, two cuts on his right hand with lesions to the tendons and three on the elbow along with two fingers of the left hand cut off. After treatments he left the hospital after sixty-five days.

The other grenadier also had a cut on his right parietal which had shattered a small part of the bone, two light cuts on the chin, a light one on the left wrist and another that cut through several tendons of the right hand. The wounds of the hands healed quickly, but after a few days he suffered from numbness in his left arm, cold sweat and pressure in his head and soon the limbs of the left side were paralyzed, the jaw and the tongue also became numb. The patient fell unconscious and died in convulsions. Ravaton noticed that blood had accumulated on the brain. These symptoms might sound like an intracerebral stroke. Ravaton was surprised by the result since he thought the first in more immediate danger than the second. His hypotheses were that either the first patient had a thicker skull, or that the sabre was sharper and had penetrated the skull more than it shook the brain, causing, ironically, less damage.

Übersetzung von mir:
Ein interessanter Fall ist der von zwei Grenadieren des Regiments Saint Germain, die sich gegenseitig zerhackt haben. Der Erste hatte einen Säbelschnitt entlang der Sagittalnaht erhalten, der das Gehirn nicht erreichte, zwei Schnitte auf der rechten Seite des Scheitelbeins, die Splitter verursachten, das rechte Ohr war weg, die Nase war halb abgeschnitten, zwei Schnitte an der rechten Hand mit Sehnenverletzungen und drei am Ellbogen sowie zwei abgeschnittene Finger der linken Hand. Nach der Behandlung verließ er das Krankenhaus nach fünfundsechzig Tagen.

Der andere Grenadier hatte ebenfalls eine Schnittwunde am rechten Scheitelbein, die einen kleinen Teil des Knochens zertrümmert hatte, zwei leichte Schnittwunden am Kinn, eine leichte am linken Handgelenk und eine weitere, die mehrere Sehnen der rechten Hand durchtrennte. Die Wunden an den Händen heilten schnell, aber nach einigen Tagen litt er unter Taubheit im linken Arm, kaltem Schweiß und Druck im Kopf, und bald waren die Gliedmaßen der linken Seite gelähmt, auch der Kiefer und die Zunge wurden taub. Der Patient wurde bewusstlos und starb unter Krämpfen. Ravaton stellte fest, dass sich Blut im Gehirn angesammelt hatte. Diese Symptome könnten auf einen Hirnschlag hindeuten. Ravaton war von diesem Ergebnis überrascht, da er den ersten Patienten in größerer Gefahr sah als den Zweiten. Seine Hypothesen waren, dass entweder der erste Patient einen dickeren Schädel hatte oder dass der Säbel schärfer war und den Schädel mehr durchdrungen hatte, als er das Gehirn erschütterte, was ironischerweise weniger Schaden verursachte.

“Very Perilous: A sword wounds compendium by the surgeon Ravaton”

Das ist eins von vielen historischen Beispielen vom Durchhaltevermögen des Menschen. Der Überlebende hat mindestens 11 Treffer eingesteckt, und der Verstorbene nur 5; wäre das Gefecht in einer Trainingsumgebung passiert, hätten wir wahrscheinlich gesagt, dass der Verstorbene “gewonnen” hat.

Erstrebenswertes Fechten

Beide oben genannte Aspekte von “Qualität” sind zwar relevant für die Interpretation von historischen Fechtquellen, die das Ernstfechten behandeln, sorgen aber oft im Fechttraining für langwierige Diskussionen darüber, ob der Treffer, den man gerade eingesteckt hatte, zählt oder nicht. Dabei sollte man beachten:

Das freie Fechten im Training ist kein Ernstkampf.

Selbst wenn man sich auf ein Duell auf Leben und Tod vorbereiten wollte, ist es zielführender, zu üben, wie man den Kampf steuert, um uneindeutige Ergebnisse zu vermeiden, als sich damit zu trösten, dass man bei einem verworrenen Fechtgang nur drei lebensbedrohliche Wunden erlitten hätte und das Gegenüber fünf.

Man fällt allerdings von einem Extrem ins andere, wenn man Trefferqualität ignoriert und jeden Kontakt zwischen Schwertklinge und Körper als gültig ansieht. Fechttrainer Keith Farrell hat einen empfehlenswerten Artikel darüber geschrieben, inwiefern die Schwertkampfkünste, die er unterrichtet, “tödliche Künste” sind.

“Therefore, when I teach my students, I don’t teach that swords are lightsabres, or that one hit = a kill. I teach that a well-formed strike will have the highest chance of doing damage, whereas a badly-formed strike will have very little chance of doing what you want it to do.”

– Keith Farrell, Is your art really “a killing art”?

Daher meine Empfehlung: bewerte dein Fechten, indem du dich ehrlich fragst, “Ist das, was ich gemacht habe, erstrebenswert?”

  • Halte dich an die Verhaltensregeln
  • Fechte mit Absicht; Glück zu haben ist zwar schön, aber keine valide Strategie
  • Versuche mit guter Qualität zu treffen
  • Verlasse dich nicht darauf, dass dein Treffer sofort vom Gegenüber als gültig wahrgenommen wird; gehe grundsätzlich davon aus, dass dein Treffer keine ausreichende Qualität hatte
  • Verlasse dich nicht darauf, dass dein Gegenüber mit schlechter Qualität trifft, sondern darauf, dass du dich verteidigst
  • Im Zweifelsfall solltest du den Fechtgang als “zu chaotisch” oder “unentschieden” abtun und weitermachen, statt dich auf langwierige Diskussionen einzulassen

5 responses to “Trefferqualität und erstrebenswertes Fechten”

  1. […] ist es schwieriger einen Hieb mit „guter Qualität“ mit der kurzen Schneide […]

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  2. Ich muss zugeben, die Beschreibungen der Verwundungen habe ich nur überflogen – DEN Rest habe ich aber sehr genau gelesen. Ich stimme dem Ergebnis voll zu: wenn es etwas zu diskutieren gibt, wurde nicht gut geflochten. Die Technik und die Absicht müssen immer im Vordergrund stehen, nicht dass der Gegner ein bisschen mehr gestorben ist als ich. Deshalb sehe ich Doppeltreffer auch so kritisch: sie sollten im Wettkampf berücksichtigt werden, aber ein Fechter sollte unbedingt vermeiden, dass die Regelung zum Tragen kommt. Meine erste Regel ist immer: nicht getroffen werden.

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  3. […] people agree that genuine risk to life and limb adds an entirely different dimension to fencing which does not exist in a sportive context. Most people also agree that martial sports of all kinds […]

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  4. […] die Qualität eines Treffers […]

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  5. […] Eine deutsche Version dieses Beitrags findest du hier. […]

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