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“Ideologie” ist ein sehr vorbelasteter Begriff. Für manche ist eine “Ideologie” eine dogmatische Hingabe an eine Reihe von Glaubenssätzen; “rationale” Menschen haben keine Ideologie, sie haben nur Überzeugungen, zu denen sie “rational” gekommen sind!
So sehe ich es nicht. Für mich ist eine Ideologie ein Modell zur Betrachtung der Realität, das eine Person aus ihren Grundannahmen aufbaut. Die interessantesten dieser Annahmen sind diejenigen, die die Werte einer Person widerspiegeln. So gesehen ist es klar, dass jeder eine Ideologie hat, weil jeder ein Wertesystem hat. “Ideologiefrei” zu sein, würde bedeuten, dass man einen vollkommenen, unverfälschten Einblick in die Natur der Realität hätte (und dass rationale Meinungsverschiedenheiten über Werte und die Methoden zu ihrer Verfolgung unmöglich wären).
“Der Vorwurf einer durch Ideologie bestimmten Argumentation findet sich häufig im politischen Diskurs. Damit wird unterstellt, dass ein Standpunkt deswegen nicht stichhaltig sei, weil er auf einer politischen Ideologie basiere. Der eigene Standpunkt wird demgegenüber implizit oder explizit so dargestellt, dass er auf einer nüchternen Analyse der Wahrheit, dem gesunden Menschenverstand oder auf einer nicht in Frage zu stellenden Ethik beruhen würde. Dies könnte indes die jeweilige Gegenseite in vielen Fällen mit dem gleichen Recht für sich in Anspruch nehmen.”
– eine treffende Beschreibung der Sackgasse, in der wir uns befinden, wenn wir behaupten, ideologiefrei zu sein, die ich von Wikipedia geklaut habe
Wir alle bringen vorgefasste Ansichten mit. Bei Gesprächen mit Anderen in der eigenen Fechtgruppe oder mit Leuten aus anderen Vereinskulturen, die du auf einer Fechtveranstaltungen triffst, wirst du häufig auf Perspektiven stoßen, die sich von deinen eigenen unterscheiden. Ihre und deine eigene “Fechtideologie” zu verstehen, kann zu fruchtbareren Gesprächen führen.
Dass es unterschiedliche Meinungen gibt, bedeutet natürlich nicht, dass alle Meinungen gleichermaßen gültig sind. Mein Ziel mit diesem Beitrag ist eine Anregung zum Nachdenken über Nuancen und die eigenen Vorurteilen, nicht die Reduktion aller Meinungsverschiedenheiten auf unlösbaren Relativismus.

Häufige Meinungsverschiedenheiten
Hier sind ein paar Beispiele für unterschiedliche Ansichten, die ich in der historischen Fechtszene gehört habe. Natürlich lassen sich die meisten Menschen nicht in die unten beschriebenen Kategorien einordnen; es gibt deutlich mehr Sichtweisen als die, die ich hier aufgelistet habe.
Achtung: Die hier geäußerten Meinungen sind nicht unbedingt meine eigenen!
- Schutzausrüstung
- Schutzausrüstung ist gut
- Schutzausrüstung reduziert die Verletzungsgefahr
- Schutzausrüstung ermöglicht sicheres Scheitern (und da das Scheitern eine Voraussetzung für das Lernen ist, ermöglicht sie besseres Lernen)
- Echte Angst um die eigene Sicherheit ist kontraproduktiv für eine gute Lernumgebung
- Schutzausrüstung ist schlecht
- Moderne Schutzausrüstung ist ahistorisch
- Schutzkleidung schränkt die Bewegungsfreiheit so ein, dass historische Technik zu schwierig wird
- Schutzkleidung vermittelt ein falsches Gefühl von Sicherheit (und erhöht damit die Verletzungsgefahr)
- Echte Angst um die eigene Sicherheit ist notwendig für eine gute Lernumgebung
- Schutzausrüstung ist gut
- Toleranz für Verletzungen
- Hohe Toleranz
- Schmerz ist ein guter Lehrer
- Du solltest an deine Grenzen gehen, was bedeutet, dass es manchmal zu einer schlimmen Verletzung kommen kann
- Krasse Verletzungen sind cool
- Niedrige Toleranz
- Schmerz ist kein guter Lehrer – er schreckt sogar davon ab, neue Dinge auszuprobieren
- Du solltest mit einer Intensität trainieren, bei der es höchst unwahrscheinlich ist, dass du jemanden verletzt oder du selbst verletzt wirst
- Schlimme Verletzungen sind ein Symptom für mangelnde Kontrolle deinerseits oder seitens deiner Trainingspartner
- Hohe Toleranz
- Die Bedeutung von Sparring / unkooperativen Übungen / Wettkampf
- Sparring ist wichtig
- Sinn und Zweck des Fechttrainings ist die Vorbereitung auf das freie Fechten
- Unkooperative Übungen sind notwendig, um die Fähigkeiten zu erlernen, die wir lernen wollen
- Eine zu starke Betonung auf kooperative Übungen führt zu schlechten Gewohnheiten
- Erfahrung ist wichtiger als Wissen
- Sparring ist nicht wichtig
- Freies Fechten ist unrealistisch
- Das freie Fechten ist nicht das Ziel unseres Trainings
- Man sollte zuerst kooperative Übungen beherrscht haben, bevor man mit weniger kooperativen Übungen anfängt
- Eine zu starke Betonung auf Sparring führt zu schlechten Gewohnheiten
- Wissen ist wichtiger als Erfahrung
- Sparring ist wichtig
- Form vs. Funktion
- Form geht vor Funktion
- Gute Funktion ist die natürliche Folge guter Form
- Man sollte zuerst das ideale Bewegungsmuster verinnerlichen, und erst dann die Intensität erhöhen
- Wenn es nicht so aussieht, wie es in den Bildern im Buch steht, dann machst du es falsch
- Funktion geht vor Form
- Gute Form ist die natürliche Folge guter Funktion
- Es gibt kein ideales Bewegungsmuster, es gibt nur Ziele und Bewegungsmuster, die besser oder schlechter sind, um diese Ziele zu erreichen
- Solang du deine Trainingsziele erreichst, ohne dich oder andere zu verletzen, ist es egal, ob es so aussieht wie in den Bildern im Buch
- Form geht vor Funktion
- Die Bedeutung von theoretischem Wissen
- Theoretisches Wissen ist wichtig
- Es ist kein “historisches” Fechten, wenn du nicht über den historischen Kontext deines Fechtens sprechen kannst
- Nur ein sehr erfahrener Meister wird wissen, was in einem “echten Schwertkampf” funktionieren würde
- Wenn du die Techniken in deiner historischen Quelle nicht nennen kannst, wie kannst du dann sagen, dass dein Fechten auf dieser Quelle beruht?
- Sinn und Zweck des historischen Fechtens ist es, eine perfekte Wiedergabe der Techniken, wie sie in den Quellen beschrieben sind, nachzubilden
- Historische Forschung ist ein Teil des Hobbys
- Theoretisches Wissen ist nicht wichtig
- Fechten ist eine praktische Kunst; man braucht kein theoretisches Verständnis der Kunst, um sie zu beherrschen
- Es ist besser, Annahmen übers Fechten im freien Fechten auf die Probe stellen, als sich auf das Wissen eines Meisters zu verlassen.
- Manche Leute wollen einfach mit Schwertern kämpfen und interessieren sich nicht so sehr für die Geschichte (und das ist in Ordnung)
- Sich Techniknamen zu merken und bildgetreue Choreographien auszuführen, hat wenig Einfluss darauf, ob man ein guter Fechter ist oder nicht
- Historische Forscher forschen, historische Fechter fechten
- Theoretisches Wissen ist wichtig
Bestimmte Überzeugungen bündeln sich gerne zu häufigen Konstellationen. Eine Fechtgruppe zum Beispiel, die die Verwendung von viel Schutzausrüstung ablehnt, aber gleichzeitig eine niedrige Toleranz für Verletzungen hat, wird wahrschein eine Pädagogik bevorzugen, die sich auf (halb-)kooperative und Einzelübungen konzentriert.
Was meinst du?
Ich habe eine Liste mit offenen Fragen erstellt, um dich zum Nachdenken über deine eigene “Fechtideologie” anzuregen.
Die Erstellung einer solchen Liste ist schwierig, denn die Fragen könnten die eigene Ideologie widerspiegeln! Die Frage “Sollte ein Fechter seine kämpferischen Fähigkeiten auf die Probe stellen?” impliziert, dass man denkt, dass Fechten kämpferische Fähigkeiten umfasst, aber nicht jeder wird dem zustimmen. Vielleicht kannst du aus der Art und Weise, wie ich die Fragen formuliert habe, meine Ideologie erschließen! 😉
- Was sind deine Ziele fürs Fechttraining?
- Welche Ziele hätte eine historische Person aus der von dir untersuchten Zeit fürs Fechttraining?
- Was bedeutet das “Historische” in “Historisches Fechten”?
- Was bedeutet das “Fechten” in “Historisches Fechten”?
- Wie unterrichtet man am besten Fechten? Wie lernt man am besten?
- Was macht einen guten Fechter bzw. eine gute Fechterin aus?
- Ist akademisches Wissen (die Fähigkeit, sich an Fakten, Namen, Techniken usw. zu erinnern) notwendig, um ein guter historischer Fechter zu sein?
- Kann man Fechter “einstufen”? Wenn ja, wie?
- Wie erkennt man “gutes Fechten”?
- Was heißt “gute Form”?
- Welche Rolle sollte das Scheitern im Fechttraining spielen? Was sind akzeptable Konsequenzen des Scheiterns beim Training?
- Welche Rolle sollte Schutzausrüstung im historischen Fechten spielen?
- Welche Rolle sollte Sparring bzw. freies Fechten im historischen Fechten spielen?
- Was bedeutet Sparring bzw. freies Fechten?
- Welche Rolle sollte Wettkampf im historischen Fechten spielen?
- Was bedeutet “Fairness” im Fechten? Ist es möglich, beim Fechten zu “schummeln”?
- Welche Verletzungen sind in einem typischen Fechttraining akzeptabel? Und bei einem Turnier?
- Ordnest du dein Fechten als Kampfkunst ein? Als Sportart? Warum?
- Ist das historische Fechten eher mit Tanzen oder MMA vergleichbar?
- Welche Rolle spielt die Athletik / die Fitness im Fechttraining?
- Muss man ins Schwitzen kommen, damit sich ein Fechttraining lohnt?
- Kann man Fechten ohne Trainingspartner*innen lernen?
- Was ist deiner Meinung nach beim Fechten wichtig, was die meisten Leute nicht für wichtig halten? Etwas, das andere Leute für wichtig halten, du aber nicht?

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